Die Kindheit der Onkelz
29. Mai 1963, 12:57 Uhr. In Alsfeld bei Kassel wurde soeben ein Junge geboren. Die Eltern, Gisela und Karl-Heinz Weidner. Karl-Heinz Weidner, der im Alter von zwölf Jahren ins Kinderheim Marienhausen abgeschoben wurde genoss keine schöne Kindheit. Er wurde von seiner Mutter verprügelt, und im Kinderheim sollte es ihm auch nicht besser gehen. Mit 16 Jahren wurde er beim Klauen erwischt und erhielt zwei Jahre Haft. Der Krieg lag nur elf Jahre zurück, und die Justiz wollte die Kriminalität im Griff haben. Mit 23 Jahren heiratete er Gisela Meissburger, die zwei Söhne, Günther und Klaus-Dieter mit in die Ehe brachte. Doch dann am 29. Mai wurde als erstes gemeinsames Kind Stephan geboren. Stephan wurde viel in Obhut gegeben weil er soviel schrie. Bis zu seinem dritten Lebensjahr bekam Stephan noch zwei kleine Schwestern, Carmen und Moni. Fünf Kinder, ein zu kleines Heim, und Stephan wurde hin und her gereicht. Kurz nach Moni's Geburt wurde die Jugendfürsorge auf die Zustände im Hause Weidner aufmerksam und gab den ältesten Sohn Günther in eine Pflegefamilie.Klaus-Dieter kam in ein Heim für „schwererziehbare“ Kinder. Stephans Vater wurde, weil er immer einen Cowboy Hut trug, Tex genannt. Tex arbeitete den ganzen Tag und verpasste abends absichtlich den letzten Bus um sein Geld im Rotlichtmilieu zu verschwenden. Tex wollte frei sein, was er mit fünf Kindern wohl kaum sein konnte.1966, als Moni ein Jahr alt war, ließ er seine Familie im Stich und der dreijährige Stephan wurde noch mehr herumgereicht. Tex arbeitete jetzt als Zuhälter mit ein paar Jugendkollegen zusammen. Knallhart und gnadenlos verwaltete er den Dienstleistungsbetrieb, in dem knapp 70 Huren arbeiteten. Zusammen mit seiner Mutter, seinem älteren Stiefbruder Günther und seinen beiden Schwestern zog der vierjährige Stephan an den Frankfurter Berg, einen Ort an dem man freiwillig nicht wohnen würde. Ein herab gekommenes Viertel, in dem die ausländischen Gangs regierten. Als Stephan in die Schule kam, interessierten ihn gute Noten nicht; es hätte sich Zuhause doch niemand darüber gefreut. Stephan begann die Erwachsenen zu hassen weil sie ihn im Stich ließen, und wenn er geschlagen wurde, hasste es sie nur noch mehr. Gestärkt wurde dieser Hass, als sein Nachbar Stephan‘s Kater, den er sehr liebte, vom Balkon hinunterwarf. Tex, der all die Zeit nichts von sich hören ließ durch seine steile Karriere im Frankfurter Rotlichtmilieu, kam jetzt häufiger zu Besuch und kümmerte sich besonders intensiv um Stephan, der schließlich 1976 zu ihm zog. In der Schule störte er durch obszöne Zwischenrufe, und er quälte seine Mitschüler. Mindestens einmal die Woche überbrachte Stephan seinem Vater die Nachricht, dass seine Lehrer ihn sprechen wollten. Doch die Schule ließ Tex kalt. Schlimm wurde es nur, wenn die Polizei ins Spiel kam. Dann konnte Tex losbrüllen. Schläge gab es nie. Sein Auftreten war so dominant, dass Stephan ihn respektieren musste. Sobald die Schule aus war, lief er in der Stadt herum und rauchte Zigaretten. Das tat er, seit er elf war. Mit dreizehn rauchte er mit den älteren Jungs Joints und mit 15 reichte man ihm LSD. Ende des Schuljahres 77/79 blieb Stephan erneut sitzen, doch man verwieß ihn auf eine andere Schule, die voll war mit ausländischen Schlägergangs. Als er Ende des neunten Schuljahres erneut sitzenbleiben sollte, demolierte er das Physikzimmer, verpasste seinem Lehrer eine Ohrfeige und stellte den Feueralarm ein. Schlägereien hatte er schon Tausende, doch so ausgerastet war er noch nie. Nun sollte er selbst von dieser Schule fliegen. Stephan musste eine Schule in einem anderen Bundesland besuchen, weil ihn in Hessen keine Schule mehr aufnehmen wollte. Also zogen Stephan, Tex und seine zweite Frau Helga nach Hösbach in Bayern. Hösbach war ein langweiliges Dorf, der einzige Stolz des Dorfes war das Ringerteam. Nach ein paar wilden Schlägereien mit den Klassenstärksten, war er in Hösbach nur noch „der Neue“, „der Frankfurter“. An den Wochenenden besuchte er seine Freunde in Frankfurt. Durch die lange Reise war er gezwungen, das Wochenende bei seinen Schwestern zu übernachten. Er merkte nicht, dass er in der Schule aus dem Weiten beobachtet und bewundert wurde.
Der Beobachter hieß Peter Schorowsky. Peter wurde am 15. Juni 1964 in Hösbach geboren und hatte eine einigermaßen schöne Kindheit. Mit fünf Jahren sah er im Fernseher die Beatles, und für ihn war klar, er würde auch einmal ein Beatle werden. In der siebten Klasse wechselte er ins langhaarige AC/DC Lager. Als er erfuhr, dass ein Mitschüler eine Rockband gründen wollte, bewarb er sich als Backgroundmusiker. Da er noch nie in seinem Leben mit einer Gitarre gespielt hatte, wurde nichts daraus. Doch für Peter war der Traum vom Rockstar noch lange nicht zu Ende. Mit der Zeit löste er sich von AC/DC und er ging zu härterem Rock über. Eines Tages sah er im Fernseher eine Gruppe, die sich „Sex Pistols“ nannte. Das war’s für Peter. Geiler konnte keine Band mehr sein. Und wie nannte sich diese Musikrichtung? Punkrock? Punk, dass klang für Peter nach der Erlösung, das musste es sein. Außerdem war da noch dieser andere Junge, der einen sehr punkverdächtigen Eindruck machte. Peter hatte gehört, dass dieser Junge im Kunstunterricht, als man eine Postkartencollage machen wollte, einen Stapel Playboys in der Schule verteilte. Außerdem hatte er bereits nach zwei Wochen den stärksten Ringern der neunten Klasse, die sich für unbesiegbar hielten, ein paar Zähne ausgeschlagen. Dazu soll dieser Weidner bereits mit 15 Jahren falsche Schneidezähne haben, welche er angeblich während des Unterrichts gerne mal an die Wandtafel warf. Ausser diesem Weidner war da noch dieser blonde Junge aus der Realschule, der mit einer Lederjacke, auf der das Zauberwort Punk stand, herumlief. Im Sommer 79 hatte man Stephan auf Grund seines Verhaltens den Abschluss verweigert, was ihn vor Wut explodieren ließ. Er fuhr mit seinem Mofa auf dem ganzen Schulhausareal herum und beschimpfte jeden Lehrer, der ihm begegnete. Wieder einmal sollte Stephan von der Schule fliegen. Er hauste in einem 12qm grossen „Mülleimer“ unter der Erde. Ein Holzschrank versperrte das einzige Fenster. Überall stapelten sich Pornohefte, und es lagen leere Bierflaschen herum. Da Tex, Stephan kein Geld mehr geben wollte, nahm er seinen 16-Jährigen Sohn mit in sein Bordell und stellte Stephan seinen Kollegen vor. Er kam gut an durch seine Schlagfertigkeit und bekam einen Job hinter der Theke einer Bar, die zum Puff gehörte.
In der Friedhofstraße 17, das Reihenhaus neben Weidners, war im Frühjahr 77 eine Familie aus Hamburg eingezogen. Familie Russel mit zwei Söhnen und einer Tochter. Der Vater, ein englischer Pilot, der fast nie Zuhause war, und eine Mutter, die ein Alkoholproblem hatte. Stephan freundete sich mit Kai Russel an, der zwei Jahre älter war als er selbst. Peter suchte am Anfang den Kontakt zu Kai’s jüngerem Bruder Kevin, der aber im Herbst mit Kai und Stephan in Stephan‘s Keller seine Abende verbrachte. Kevin war der andere Junge mit der Lederjacke, den Peter auch noch beobachtet hatte. Kevin hatte die Realschule nicht geschafft und kämpfte sich nun durch ein Berufsgrundschuljahr in einer Elektrofachschule. Doch Kevin bemühte sich mehr, grosse Mengen Bier zu trinken und „anti“ zu sein.
Kevin war am 12. Januar 1964 geboren worden und hatte eine ähnliche Kindheit wie Stephan. Ausser. dass Kevin‘s Mutter Alkoholikerin war und Kevin von seinem Vater verprügelt wurde, war sonst alles identisch mit Stephan‘s Vergangenheit. Der einzige Lichtblick im Familienleben der Russel war, dass man einmal im Jahr nach Kenia ins Ferienhaus fuhr.
Der Puff begann Stephan anzuöden, und nach Silvester 1980 beendete er seine Puffkarriere. Stephan begann Kevin und Peter, der jetzt nur noch Pe hieß, von Frankfurt zu erzählen, darüber, was in Frankfurt abging, von all den Punks, und dass man da einfach „anti“ sein musste. Ansonsten hörten sie sich Punkmusik an, spielten mit ihren Luftgitarren und tranken Bier. Nur wenn Tex etwas sagte, war es ruhig. Und wenn Tex gerade nicht da war, schauten sie sich Pornos an. Manchmal kam Stephan‘s Schwester Moni vorbei, die ein Auge auf Kevin geworfen hatte. Doch zunächst wollte es ihr nicht gelingen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.